"Bevor du über einen Menschen urteilst, gehe drei Monde lang in seinen Mokassins."
Ein ungestümer Jungspund zieht alleine durch die Welt. Er rastet mal hier mal dort und scheint zugleich auf der Suche nach irgendetwas, wie auch auf der Flucht. Äusserst verschlossen und wortkarg, wie er ist, ist er für die meisten Menschen, die ihm begegnen ein Rätsel. Er scheint nicht gern gesehen, denn durch seine Unzugänglichkeit fühlen sich viele bedroht. So verweilt er auch kaum irgendwo länger als ein paar Tage, bis er eines Tages in ein Indianerreservat gelangt, wo er, anders als sonst wo, sehr freundlich empfangen und behandelt wird. Äusserst erstaunt und zugleich erfreut über dieses Verhalten entschliesst er sich ein wenig länger an einem Ort zu bleiben als gewohnt.
Über Nacht wird er so vom totalen Streuner und Einzelgänger zu einem Mitglied des ansässigen Stammes und nimmt am täglichen Arbeitsgang, wie auch an allen anderen gemeinsamen Tätigkeiten teil. Doch weil er sich solch eine herzliche Integration nicht gewohnt ist beschliesst er nach einem Monat wieder aufzubrechen.
Vor seinem Aufbruch besucht er nochmals den Stammesältesten und fragt ihn, warum sie ihn so herzlich aufgenommen hätten, obwohl er doch ein streunender Vagabund sei, von dem man eigentlich nichts Gutes erwarten könne.
Dieser antwortet nur: "Bevor du über einen Menschen urteilst, gehe drei Monde lang in seinen Mokassins. Gehe nun in Frieden.!!
Auf seiner weiteren Wanderschaft begleiten ihn diese Worte nun stets, auch wenn er irgendwie den tieferen Sinn noch nicht ganz erfasst zu haben scheint. Was der alte Mann damit wohl gemeint hat?
Mokassins sind die Schuhe der Indianer, das weiss er wohl, und dass drei Monde ungefähr der Zeit von drei Monaten entspricht auch, doch warum sollte man die Schuhe eines anderen drei Monate lang anziehen, bevor man über diesen urteilt?
Kann man denn den Leuten nicht schon von weitem am Nasenspitz ablesen, wie sie gestrickt sind?
Auf seiner Wanderschaft hat er gelernt sich vor den Leuten in Acht zu nehmen und alle so schnell wie möglich sehr genau einzuschätzen, so dass er dies nun oft schon auf den ersten Blick kann. Zu oft hat man versucht ihn übers Ohr zu hauen oder ähnliche Unannehmlichkeiten bereitet, als dass er noch auf irgendjemanden zugehen würde, ohne diesen nicht vorher genau einzuschätzen. Und wohlgemerkt, seine Einschätzungen werden von Tag zu Tag präziser und treffen schon seit langem sehr genau ins Schwarze; er weiss, vor wem er sich in Acht nehmen muss und vor wem weniger.
Warum also sollte er zuerst drei Monate mit den Schuhen dieser Leute herumziehen, wenn er sie auch so ohne grosse Probleme einschätzen kann?
Langezeit erscheint ihm dieser Satz des alten Mannes als verrückt, als gänzlich verkehrt gar, bis ihm das Wort urteilen eine kleinere Erleuchtung bringt
Denn urteilen ist nicht das gleiche wie einschätzen; es ist viel umfassender, ja gar endgültig. Eine Einschätzung ist nur für den Moment, damit entscheidet er nur, ob er sich vor einer Person jetzt gerade, wenn er ihr begegnet in Acht nehmen muss, oder nicht; ein endgültiges Urteil ist das aber noch lange nicht. Ein Urteil ist wie ein Richtspruch über eine Person. Ein Richtspruch darüber, ob diese Person gut oder böse ist, oder im übertragenen und endgültigsten Sinn, ob diese Person das Leben somit verdient hat oder nicht. Damit man das sagen kann, muss man wohl die genaueren Umstände einer Person kennen, vielleicht sind die Mokassins gewisser Leute ja so unbequem, dass sie gar nicht anders können, als, getrieben von ihren schmerzenden Füssen, anderen Menschen Leid zufügen.
Vor langer Zeit hat er in der Schule mal von zwei Dingen gehört, die das menschliche Leben entscheidend beeinflussen sollen, den Genen und den äusseren Einflüssen. Vermutlich sind mit diesen Mokassins also die Gene, die äusseren Einflüsse und die Lebenssituation eines Menschen gemeint, die man genauer betrachten sollte, bevor man über ihn urteilt, doch abgesehen von den Gerichten, wer muss sich schon die Mühe machen über einen anderen zu urteilen?
Ist es nicht ein zu grosser Aufwand, der einem eigentlich gar nichts bringt?
Seit er von zu Hause weggegangen ist, hat er sich niemals mehr die Mühe genommen über andere zu urteilen, denn er sah die Leute jeweils ja sowieso nur für eine ganz kurze Zeit und daher musste er ja auch nicht mehr als eine Momentaufnahme der Leute machen. Alles was ihn noch zu kümmern brauchte, war vor wem er sich in Acht nehmen musste, denn, da ihn niemand begleitete, musste er auch niemandem mehr vertrauen. Damit er jemandem vertrauen könnte, müsste er ein entsprechend gutes Urteil über diese Person haben, nicht nur eine gute Momentaneinschätzung, denn Vertrauen muss von einer längeren Dauer sein, als bloss ein paar Sekunden oder Tage. Wenn irgend möglich sollte es ein Grundzustand zwischen zwei Personen sein, was aber wie gesagt nur dann möglich ist, wenn sie über einander ein entsprechend gutes Urteil haben.
Woher kommt es eigentlich, dass er schon so lange auf Wanderschaft ist? Ist der Grund nicht der, dass er damals über jene Personen, die er gekannt und geliebt hat, geurteilt hat?
Der Grund zu seinem Aufbruch war, daran erinnert er sich noch genau, dass er jene, die er mit ganzem Herzen liebte, in seinem Kopf für das was sie getan hatte, verurteilen musste und damit ihn Kopf und Herz nicht mehr innerlich entzweiten, beschloss er sich auf Wanderschaft zu begeben. So musste er weder dem einen noch dem anderen nachgeben.
Er merkt nun sehr wohl, dass er sich der Herausforderung eines wirklichen Urteils nicht gestellt hat, dass sein Urteil nicht nach der Weisheit des alten Indianers gefällt wurde und dass er vor der Auseinandersetzung mit diesem Urteil auf der Flucht ist.
Nach langem Ringen mit sich selbst beschliesst er zurück zu gehen und sich dieser Aufgabe nochmals zu stellen. Er will sich 3 Monate lang in die Lebensweise, die Gedanken und Gefühle dieser Person hineinversetzten um sich ein endgültiges und gerechtes Urteil über diese Person zu bilden; auf dass er mit seiner Vergangenheit abschliessen kann und sich endlich der eigenen Zukunft widmen kann, nachdem er nun lange Zeit während seiner Wanderschaft einfach nur in der Gegenwart gelebt hatte.
Nach einem halben Jahr findet man ihn bei den Indianern wieder. Er scheint befreit und ohne Mühe lebt er sich wieder in ihrem Stamm ein, für den er aufgrund seiner verschiedensten Qualitäten bald ein sehr wichtiges Mitglied wird. Nach einem halben Jahr ist er kaum mehr wegzudenken aus dem Stamm.
Eines Tages bittet ihn der Stammesälteste zu sich und fragt ihn, warum er wieder zu ihnen gekommen sei und was ihn bewogen habe von zu Hause weg zu gehen. Der unterdessen nicht mehr ganz so junge und ungestüme Jüngling beginnt seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Seine Geschichte endet damit, dass er aufgrund des Urteils, das er sich über seine Liebe gebildet hat, beschlossen hat niemals mehr zurückzugehen und sich ein Leben anderswo aufzubauen. Da er bei den Indianern am herzlichsten Aufgenommen worden war, beschloss zu Ihnen zurück zu gehen und bei Ihnen zu leben.
Darauf meint der alte Indianer nur: Ich glaube du hast mich nicht richtig verstanden! Bevor du über einen Menschen urteilst, gehe drei Monde lang in seinen Mokassins. Gehe nun erneut in Frieden.
Der Jüngling hatte schon zuvor Mühe die Welt zu verstehen, doch nun versteht er sie erst recht nicht mehr. Er hatte doch genau das gemacht, was das Sprichwort besagt. Er hatte sich wirklich intensivst drei Monate lang damit beschäftigt sich in die lage von ihr zu versetzten und doch soll er das Sprichwort nicht verstanden haben?
Natürlich ist es ihm nicht immer leicht gefallen sich in die Situation und die Gedanken anderer hineinzuversetzen. Oft gab es Situationen bei denen er das Handeln von ihr nicht nachvollziehen konnte und sie somit aufgrund dieses" falschen" Handelns verurteilen musste. Doch zeigt das nicht gerade, dass er sich nicht wirklich in ihre Situation einfühlen konnte?
Ist es denn überhaupt möglich sich in eine andere Person hineinzuversetzen?
Kann man die Lebensumstände einer anderen Person wirklich in ihrer Gesamtheit erfassen?
Wenn man es genau betrachtet, dann muss man sich doch eingestehen, dass man manchmal nicht einmal die eigenen Lebensumstände genau erfasst. Wie sollte man dann fähig sein auch noch die Lebensumstände eines anderen zu erfassen?
Alleine schon die Wahrnehmungen von zwei Personen können so verscheiden sein, dass es kaum mögli.ch ist aus der eigenen Realität in diejenige des anderen zu Wechseln.
So nimmt Beispielsweise der Eine einen Hund als einen Freund wahr, während der Andere denselben als eine Bedrohung für sein leben ansieht. Selbst unter der relativ kleinen Gruppe der Synästheten, die die Farbe eines bestimmten Tons oder Buchstabens sehen können sind die Abweichungen so gross, dass sie unter Umständen stets genau das Gegenteil des Anderen sehen.
Man müsste also um das Sprichwort zu erfüllen nicht nur bloss drei Monde lang die Mokassins des Anderen tragen und damit die eigenen Wege gehen, sondern sich von den Mokassins des anderen drei Monde lang auf seinen Wegen führen lassen, um wirklich über ihn urteilen zu können.
Da es schlichtweg unmöglich ist die Gene und Vergangenheit des anderen zu übernehmen sollten wir uns auch nicht anmassen uns wirklich in ihn hineinversetzten zu können und somit ein Urteil über andere unterlassen. Das predigen ja auch fast alle Glaubensrichtungen; In der Bibel ist es Gott, der alleine urteilen kann und darf. Und auch Laotse sagt: "Stille ziemt dem kleineren Geschlechte und von selbst ordnen sich die Dinge."
Bestimmt ist es nicht schlecht sich ein Bild über eine andere Person zu machen und diese einzuschätzen, so wie sie im Moment gerade ist, denn nur so kann man sich selbst vor Unannehmlichkeiten schützen. Doch es wäre fatal, wenn man aufgrund eines ersten Eindrucks oder einer einzigen Momentanaufnahme einen Menschen verurteilt. Ebenso fatal ist es aber auch, wenn man einen Menschen aufgrund einer einzigen Momentaufnahme in alle Himmel hochhebt und nicht mehr fähig ist zu bemerken, dass er sich verändert hat. Ich persönlich glaube, dass wir nicht befähigt sind uns ein endgültiges und gerechtes Urteil über eine Person zu bilden, denn erstens kann sie solange sie lebt sich noch weiter verändern und zweitens können wir niemals alles wissen, was wir wissen müssten um so zu denken und fühlen wie sie das tut.
(Dies ist der Maturitätsaufsatz von Mirco P. (Name von der Redaktion geändert), vom 14.Juli 2006)